3. Kapitel
Eigentlich sollte Kalle Nina am nächsten Morgen wieder zum Krankenhaus bringen; so hatten sie es vereinbart, weil die Busverbindung ungünstig war. Aber wer sich nicht blicken ließ, war er. Im Eßzimmer, wo ihr Vater nach dem Frühstück die Zeitung zu Ende las, griff sie nach dem Telefon. Ihr Vater nutzte die Gelegenheit für eine seiner Attacken gegen Kalle.
„Das war ja klar", sagte er hinter der Zeitung hervor. „Ich habe es immer gesagt - dieser Windhund wird dich immer nur versetzen und enttäuschen."
Nina zog es vor, nicht zu antworten. Tuuut... Tuuut... Kalle schlief wahrscheinlich tief und fest seinen Rausch aus.
„Dubioser Fotofuzzi", grummelte ihr Vater weiter. „Möchte wissen, wie der sein Geld verdient. Wahrscheinlich wird er dich irgendwann zu Nacktaufnahmen überreden."
Wenn du wüßtest, dachte Nina. „Hör auf, ihn schlechtzumachen", sagte sie. „Du kennst ihn ja kaum." Ihr fiel selbst auf, wie wenig überzeugend das klang. „Sag mir lieber, wie ich jetzt ins Krankenhaus komme", fuhr sie fort. „Mit dem Rad hole ich mir doch den Tod bei diesem Sauwetter. Außerdem dauert das viel zu lange."
Einige Augenblicke lang passierte gar nichts. In der Küche hörte man Frau Vensky das Frühstücksgeschirr wegräumen.
„Na komm, ich fahre dich rasch hin", sagte ihr Vater plötzlich und zog schon seine Jacke an.
„Echt, das willst du tun?" Nina war sehr erleichtert, und man hörte es ihr deutlich an. Sie selbst war über diesen Ton am meisten überrascht. Naja, Papa hatte bei seinem Angebot aber auch zum ersten Mal nach Wochen wieder versöhnlich geklungen. Sie spürte, daß der häusliche Kleinkrieg langsam begann, an ihren Nerven zu zerren. Sie konnte einen Waffenstillstand ganz gut gebrauchen.
„Die Arbeit ist übrigens wirklich schlauchig", sagte sie, als sie im Auto saßen und aus der Ausfahrt kurvten.
„Das liegt sicher daran", sagte er, „daß du das Gefühl nicht loswirst, dazu gezwungen zu sein."
„Richtig!" sagte sie aus vollstem Herzen.
Er nickte. Dann sagte er: „Ich hatte gehofft, du würdest die drei Wochen, wenn du sie schon dort verbringen mußt, einfach als eine Chance zur Orientierung betrachten. So etwas wie ein Betriebspraktikum."
„Schwierig, wenn einem damit die Ferien versaut werden", sagte sie trotzig. Sie fühlte die kleine Waffenruhe schon wieder bröckeln.
Papa schien es nicht zu merken. „Könntest du dir gar nicht vorstellen, später einen Beruf in dem Bereich zu ergreifen?"
Geht das schon wieder los, dachte sie. Sie schüttelte energisch den Kopf.
„Hm", sinnierte er unbeirrt weiter. „Hätte ja immerhin sein können, daß dich die Arbeit motiviert, deinen Notenschnitt in der Schule endlich zu verbessern und vielleicht sogar einen Studienplatz in Medizin zu ergattern."
Nina schluckte die Antwort, die ihr schon auf der Zunge lag, zunächst herunter. Aber dann hörte sie im Geiste Kalle, der sie anstachelte: Raus damit, Baby. Knall es ihm einfach vor den Latz. Der direkte Weg ist immer der beste.
„Die blöde Schule mache ich sowieso nicht mehr lange mit", hörte sie sich sagen. „Ich möchte so bald wie möglich abgehen." Mist, das war jetzt ganz bestimmt nicht der richtige Augenblick. Vielleicht war Kalles Art doch nicht so ganz das Wahre. Und richtig, Vater Vensky explodierte.
„Wie bitte?" brüllte er. „Nachdem du es fast geschafft hättest, deinen Ruf für alle Zeiten durch so etwas Dummes wie einen Diebstahl zu ruinieren, willst du dir nun auch noch die Chance vermasseln, einen anständigen Beruf zu bekommen?"
Sie öffnete den Mund, um ihm zu antworten, aber Papa war schon richtig in Fahrt gekommen.
„Sag mal, was glaubst du, wozu Mama und ich dir den Luxus finanzieren, dreizehn Jahre lang zur Schule zu gehen? Vierzehn Jahre, genau gesagt - eine Ehrenrunde hast du ja schon hinter dir."
„Dann sei doch froh, wenn ich den Kram hinschmeiße und zu jobben anfange!" warf sie ein.
„Jobben! Wenn ich das schon höre! Mensch, Kind, du kannst doch mehr als das! Bevor du deine Arbeitskraft für irgendwelche Hilfsarbeiten unter Preis verschleuderst, ergreif doch die Gelegenheit und lerne was Anständiges! Glaubst du, daß du beim Jobben weniger Stress hast als in der Schule? Du wirst dich noch umgucken! Wer hat dir überhaupt den Floh ins Ohr gesetzt? Ach, warte! Laß mich raten..."
Papa war wieder bei seinem Lieblingsthema angelangt: Bei Kalle, der an allem schuld war. Natürlich. Nina ließ ihn toben, bis sie vor dem Kliniktor standen.
„Bis später, Papa", sagte sie in seine Tirade hinein, stieg aus und lief durch den Regen ins Gebäude.
Nina wunderte sich selbst, warum sie ihrem Vater nicht heftig widersprochen hatte. Ich bin es einfach leid, mich aufzureiben, dachte sie, während sie in den zweiten Stock joggte. Aber da lauerte noch ein weiterer Gedanke im Hintergrund, den sie gar nicht gerne zu Ende denken wollte: Sie war unsicher und ratlos. Über Kalle war sie nämlich seit gestern mächtig ins Nachdenken geraten. Dabei war er gestern doch gar nicht anders gewesen als sonst...
„Einen schönen guten Morgen!" Der fröhliche Gruß kam von Andreas, der auf Schwester Hildegards Platz saß und ein Formular ausfüllte.
„Den könnte ich gebrauchen, ja." Ninas miese Laune war deutlich herauszuhören.
Andreas sah sie aufmerksam an. „Was ist los?"
Oh nein! Dieser prüfende Blick! Dieser Psychologenton! Sie hatte keine Lust, ihre Probleme vor ihm auszubreiten. „Privatsache", sagte sie entschieden und fügte hinzu: „Wo ist Schwester Hildegard? Sie hat mir eingeschärft, daß nur sie diejenige ist, die mir die Arbeit zuteilt."
Er schien das Signal verstanden zu haben und wandte sich wieder seinem Formular zu. „Kleiner Notfall", sagte er. „Frau Steinke - die im Einzelzimmer, mit dem gesplitterten Ellenbogen - hat sich bei einer ungeschickten Bewegung im Halbschlaf die Infusionsnadel rausgezogen. Weil sie gerinnungshemmende Mittel kriegt, ist das Blut nur so gesprudelt. Schwester Hildegard bezieht gerade das gesamte Bett neu." Er sah wieder zu ihr herauf. „Ich war der Bemitleidenswerte, der das Desaster vor einer Viertelstunde entdeckt hat. Wie das aussah! Kennst du den Film ‘Das Kettensägen-Massaker’?"
Er erwartete wohl, daß sie das witzig fand, aber sie nickte nur flüchtig. Nur nicht beeindrucken lassen! Wenn sie ehrlich war, ging die Vorstellung des rotgetränkten Bettzeugs ihr ganz schön unter die Haut, und sie mochte sich kaum ausmalen, wie sie selbst an Andreas’ Stelle darauf reagiert hätte.
„Du erinnerst dich sicher an Frau Steinke", sprach er schon weiter. „Du hast gestern ihre verfitzte Musikkassette mit den Egerländer Heimatmelodien aus ihrem Walkman geprokelt." Er sprang plötzlich auf, als sei ihm etwas eingefallen. „Womit wir beim Thema wären!"
„Thema!?" Nina hatte keine Ahnung, wovon er sprach.
Er griff in die Tasche seiner Jacke, die auf einem der Stühle hing. „Thema Kassette. Wenn dir die Musik unserer Band gefällt - bitte schön. Hier sind unsere besten Aufnahmen drauf."
Sie nahm ihm die Musikkassette aus der Hand und spürte für den Bruchteil einer Sekunde seine warmen Finger. „Danke," sagte sie so ungerührt wie möglich. War denn das zu glauben? Die Berührung hatte sich angefühlt wie ein elektrischer Schlag. Wenn er ihr bloß nicht so tief in die Augen sehen würde! „Ich werde mal reinhören. Wie lange darf ich sie behalten?"
Er produzierte ein unnachahmliches Lächeln und schüttelte den Kopf. „Sie gehört dir."
Jetzt konnte Nina nicht mehr verhindern, daß sie zu strahlen begann. „Danke!" sagte sie noch einmal, und diesmal klang es ganz echt.
Und tatsächlich hatte Nina sich gerade zum ersten Mal seit Wochen richtig gefreut. Ein bißchen über das Musikgeschenk, ein bißchen mehr darüber, daß es von Andreas kam, und riesig darüber, daß er sie so lieb dabei angesehen hatte.
Moment, wo war ihre abgebrühte Fassade geblieben? Sie hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Schwester Hildegard kam mit einem der fahrbaren Wäschesäcke aus Frau Steinkes Zimmer, gab Nina ein Paar Schutzhandschuhe und trug ihr auf, das blutige Zeug in die Wäschekammer zu bringen und dort sofort ins Einweichbad zu werfen.
Als sie zur Station zurückkam, war es zu spät für die Runde durch die Krankenzimmer. Schade - das war am ersten Tag das Spannendste gewesen. Auf Nina wartete nun der Küchendienst. Die stumpfsinnige Arbeit der nächsten Stunden zog sie wieder in eine rabenschwarze Stimmung hinunter. Sogar der Gedanke an die Kassette, diese kleine Aufmerksamkeit von Andreas, konnte sie nicht fröhlicher stimmen. Er mag mich möglicherweise ganz gern, dachte sie, aber doch nur, weil er nicht weiß, wie ich wirklich bin.
Kurz vor dem Mittagessen schlüpfte sie aus der Küche und lief in die benachbarte Station, wo ein öffentliches Telefon an der Wand des Korridors hing. Sie wählte Melanies Nummer.
„Teichmann?" Oha, das klang aber müde.
„Hallo Melanie. Nina hier."
„Ach, du bist es. Du hast mich aus dem tiefsten Schlaf geweckt."
„Du hast es gut! Pennst noch um halb zwölf! Ich ruf dich vom Münztelefon im Krankenhausflur an. Bin schon seit über drei Stunden bei der Arbeit. Zwangsarbeit!"
„Nina, hör auf, das so verbissen zu sehen. Es hätte wirklich schlimmer kommen können. - Nina? - Nina? Was ist? Heulst du?"
„Ja." Schnief. In der Tat brannten ihr die Augen. Sie wischte eine kleine Träne weg, damit die junge Ärztin, die gerade vorbeilief und freundlich grüßte, nichts mitbekam.
Melanie versuchte zu trösten. „So schlimm? Nina, es sind doch nur drei W..."
„Es ist nicht wegen der Arbeit."
„Sondern?"
Nina wurde klar, daß sie im Begriff war, sich zu entschuldigen. Wie schwierig das war! Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das zum letzten Mal bei jemandem getan hatte. „Es tut mir leid, wie Kalle dich gestern abend behandelt hat. Das war gemein."
„Und deswegen bist du jetzt so down? Du kannst doch gar nichts dafür! Außerdem habe ich das doch längst weggesteckt!"
„Nein, das ist es nicht. Mel, weißt du..." Es fiel Nina schwer, das zuzugeben: „So langsam komme ich über Kalle ins Grübeln."
„Wenn du mich fragst: Das wurde auch Zeit. - Nina? Noch da?"
„Ja." Sie versuchte, ihre Gedanken und Gefühle zu sortieren. „Melanie, ich weiß auch nicht, was mit mir los ist. Mein Leben ist ein furchtbares Chaos. Ich habe vor Gericht gestanden. Ich habe Probleme in der Schule. Ich habe Zoff mit meinen Alten. Ich muß diesen Idiotenjob machen. Und jetzt kriege ich auch noch das Gefühl, daß Kalle überhaupt nicht der obergeile Typ ist, auf den ich mal so geflogen bin. Weißt du, gestern abend, das hat mir wirklich gereicht."
„Wie ist denn der Rest des Abends verlaufen?"
„Er war ja ziemlich breit und wurde richtig zudringlich. Und dann fing er noch an, von den..." Nina bremste sich schnell. Von den Fotos wollte sie niemandem erzählen, nicht einmal Melanie. „Na ja, ich bin jedenfalls allein nach Hause gestiefelt. Ich setz mich doch nicht mit ihm auf seinen Hobel, wenn er was getrunken hat!"
„Sehr vernünftig."
„Mel!!" Nina wurde langsam sauer. „Kannst du mal aufhören, alles und jedes zu kommentieren und zu beurteilen, was ich dir erzähle? Du redest wie eine Lehrerin!"
Melanie nahm das erstaunlich ruhig hin. „Wieso hast du mich denn angerufen, wenn ich nichts sagen darf?"
„Oh verdammt..." Nina stoppte, holte tief Luft und fing noch einmal ein paar Grade leiser an. „Sorry. Du hast recht." Sie schniefte wieder. Der kühle Krankenhauskorridor verschwamm vor ihren Augen. „Es ist nur... Ich habe einigen Bockmist gebaut, und es ist wirklich schwer zu ertragen, wenn hinterher alle mit diesem wissenden Grinsen rumlaufen: 'Ich hab dich ja gewarnt' oder so."
„Ich grinse kein bißchen", sagte Melanie. „Was meinst du denn jetzt genau mit 'Bockmist'? Daß du die CDs geklaut hast? Oder daß du auf Kalle geflogen bist?"
„Beides!" rief Nina heftig. „Was denkst du denn, warum ich einen Stapel CDs mitgehen lasse, und dazu noch dieses Heavy-Metal-Zeugs, mit dem ich überhaupt nichts anfangen kann? Ich dummes Huhn wollte Kalle zum Geburtstag eine Freude machen und hatte keine Kohle!" Mühsam wischte sie mit dem Ärmel ihre Augen trocken. Plötzlich konnte sie wieder sehen.
Was sie sah, war Andreas, der mit einem leeren Rollstuhl in einigen Metern Entfernung stand und sie entgeistert ansah.
„Mel, ich ruf wieder an", sagte sie tonlos und hängte ein.
Andreas mußte alles gehört haben! Die Situation war so peinlich, wie sie nur sein konnte. Sie entschloß sich zur Vorwärtsverteidigung.
„Macht es Spaß, das Lauschen?" blaffte sie ihn an.
Andreas kam einige Schritte näher. „Bitte schlag nicht gleich um dich, Nina", sagte er. „Auf einem Klinikflur bist du nun einmal nicht so allein wie in einer Telefonzelle."
Widerwillig gestand sie sich ein, daß er recht hatte. Ebenso widerwillig mußte sie feststellen, daß seine Stimme einen ganz warmen und beinahe liebevollen Klang angenommen hatte.
„Jetzt weißt du Bescheid", sagte sie trotzig und wischte sich noch eine Träne aus dem Augenwinkel.
Andreas nickte nur schweigend, griff hinter die Rückenlehne des Rollstuhls, den er schob, und zauberte ein Kleenex hervor.
„Danke", sagte sie, und damit brach der Damm endgültig und die Tränen flossen unaufhaltsam. „Steh doch hier nicht herum", sagte sie unter Schluchzen. „Hast du nichts zu tun?"
„Doch", sagte er. „Ich soll dich erstens für ein paar Minuten vom Küchendienst befreien - deshalb war ich auf dem Weg zu dir -, zweitens soll ich dich zu Frau Doktor Breiter bringen, weil sie dich kennenlernen möchte, und drittens habe ich gerade freiwillig deine Notfallversorgung mit Papiertüchern übernommen." Er hielt schon wieder ein Kleenex bereit.
Dankbar nahm sie es in Empfang und drückte ihm geistesabwesend das gebrauchte in die Hand. Andreas steckte es weg und legte ihr in einer tröstenden Geste die Hand auf die Schulter. Für einen Augenblick standen sie wortlos voreinander. Sie konnte kaum fassen, daß dieser gewissenhafte Zivi, der sicher noch nie im Leben ohne Fahrschein mit der S-Bahn gefahren war, bei einer gerichtsbekannten Ladendiebin stehenblieb und nett zu ihr war.
„Hast du noch so ein Tuch?" fragte sie dann.
„Na hör mal", sagte er lächelnd. „Das hier ist ein Krankenhaus. Hier gibt es alles in Klinikpackungen." Er drehte den Rollstuhl herum. Im Rückennetz steckte ein mächtiges Paket mit zweitausend Papiertüchern.
„Okay", sagte sie. „Das wird reichen." Sie konnte schon wieder lachen. „Und willst du mich jetzt im Rollstuhl zur Chefin fahren?"
„Den bringe ich weg, während du deine Nase puderst", sagte er und zeigte auf die Tür mit dem „Damen"-Symbol in der Nähe. Ihr wurde bewußt, wie sie nach der Heulerei aussehen mußte.
„Und dann bin ich leider schon wieder in anderer Mission unterwegs", sagte er. „Aber du findest Dr. Breiters Zimmer ja auch ohne mich." Er zögerte ein wenig, bevor er weitersprach. „Komm doch nach Feierabend wieder in die Kapelle, wenn du magst."
„Gerne", sagte sie, und plötzlich war der Tag nicht mehr ganz so schwarz.
Nina hatte eine grauhaarige, strenge ältere Dame mit Brille erwartet, aber Dr. Breiter war die sympathische, junge Frau, die während des Telefonats an ihr vorbeigekommen war. Sie wollte einfach wissen, wer in ihrer Station ein und aus ging. Mit keinem Wort erwähnte sie den Grund für Ninas Hiersein, dafür fragte sie im lockeren Plauderton alles mögliche andere: Ob Nina Interesse an der Krankenhausarbeit hätte, ob sie schon berufliche Pläne machte, welche Fächer sie in der Schule am liebsten mochte.
Eine Viertelstunde später kehrte Nina in die Küche zurück und ging gedankenverloren wieder an die Arbeit. Die ganze Zeit dachte sie daran, daß Andreas nun wußte, warum sie hier war, und daß er so unbekümmert darüber hinweggegangen war. Was für ein Bild mochte er jetzt von ihr haben? Sie wollte unbedingt mit ihm über die Sache reden und konnte den Feierabend kaum erwarten.
Andreas saß schon am Klavier, als sie die Kapelle betrat. Als er sie hereinkommen hörte, drehte er sich zu ihr um. Sie zog sich einen der Stühle heran und setzte sich zu ihm.
„Hallo", sagte er. „Schön, daß du da bist."
Dieser Blick! Den ganzen Nachmittag hatte sie sich Worte zurechtgelegt, aber unter diesen braunen Augen fiel ihr nichts mehr ein. Bevor sich eine verlegene Stille ausbreiten konnte, verfiel sie in ihren gewohnten Ton und sagte flapsig und von oben herab: „Hey, du redest ja noch mit mir! Paß bloß auf, daß deine gute Erziehung nicht flöten geht: Kriminelle Energie ist ansteckend."
Andreas schaute sie forschend an. „Aber heilbar", sagte er.
Sie konnte mit seiner Antwort überhaupt nichts anfangen. „Wie meinst du denn das?"
Er lehnte sich auf seinem Klavierhocker nach vorn, näher zu ihr. Sie dachte für einen Moment, er würde gleich ihre Hände in seine nehmen, aber das geschah leider nicht. „Ich habe dich ja am Telefon gehört, ob ich wollte oder nicht", sagte er. „Also weiß ich jetzt, daß du geklaut hast und deshalb in Schwierigkeiten warst. Wahrscheinlich bist du sogar deswegen hier, stimmt's?"
Wie er das sagte, so ganz ohne Vorwurf! Nina nickte.
„Ich weiß aber noch mehr", fuhr er fort. „Du hast längst kapiert, daß du dir selbst mit der krummen Tour am meisten geschadet hast. Das hast du ganz deutlich gesagt. Ich glaube, du bist einfach aus Erfahrung schlauer geworden. Das meinte ich mit 'heilbar'."
Sie seufzte resigniert. „Ich bin so blöd!"
Andreas schüttelte den Kopf. „Du bist nicht blöd. Du hast nur etwas Blödes gemacht."
Nina war für einen Augenblick sprachlos. Diesen feinen, aber offenbar wichtigen Unterschied hatte sie noch nie gesehen. Es war gut, so etwas gesagt zu bekommen. Eine riesige Erleichterung...
Sie wollte nicht schon wieder in Gefühle zerfließen. „Komm, spiel mir was vor", sagte sie.
Er drehte sich zu den Tasten um und fing einfach an.
„Wow", rief sie, „das ist doch... warte mal, das kenn ich..." Sie summte mit, dann fiel ihr eine Textzeile dazu ein: „Don't tell me ‘cause it hurts... Don’t speak..."
„Warte", sagte Andreas. Aus seiner Tasche, die auf dem Klavier lag, holte er ein Bündel handgeschriebener Zettel. Er blätterte kurz und reichte ihr einen der Bögen voller Text, Akkordbezeichnungen und Notizen. „Da hast du den Song."
Er begann sofort noch einmal von vorn, bevor Nina Lampenfieber bekommen konnte, und sie fand problemlos den Einsatz. Nach wenigen Worten stand sie auf, um besser atmen zu können. Der kahle Raum verstärkte ihre Stimme mächtig. Bin ICH das? dachte sie entgeistert und bekam plötzlich heftiges Herzklopfen. Beim Refrain setzte Andreas dann auch noch mit der zweiten Stimme ein und der Klang wurde so großartig, daß Nina den Faden verlor. Andreas hörte auf zu spielen und sah sie an.
„Sorry", sagte sie kleinlaut. „Dein Einsatz hat mich rausgebracht." Dann sah sie seinen Blick, der alles andere als mißbilligend war. Ein faszinierter Blick, der ihr durch und durch ging.
„Du machst nicht zum ersten Mal Leadgesang, oder?" fragte er.
„Doch", sagte sie. „Ich habe bisher nur im Schulchor gesungen - bis zur siebten Klasse. Danach nie wieder."
„Unglaublich", sagte er und klang wirklich beeindruckt. „Weißt du, daß unsere Sängerin die Band bald verläßt?"
„Nein. Wieso?"
„Weil sie ein Studienjahr in London einlegt."
„Nein, ich meine: Wieso fragst du mich das jetzt?"
„Wir brauchen dringend Ersatz", sagte Andreas. „Wir suchen schon seit Wochen, aber bisher hat uns keine der Stimmen gefallen."
„Ja - und..." Ninas Herz hüpfte. Das Singen dieser wenigen Zeilen zu Andreas' einfühlsamer Begleitung hatte ihr riesigen Spaß gemacht. Wollte er etwa...
„Ich würde dich der Band gerne vorstellen", sagte er auch schon.
Nina war fassungslos. „Du glaubst, ich könnte einspringen?"
„Wir müßten ein bißchen dran arbeiten", sagte er. „Stell dir das nicht zu leicht vor. Aber klar, du kannst das. Soviel konnte ich schon hören. Komm, gleich nochmal!" Schon begann das Vorspiel wieder.
Diesmal war Nina darauf gefaßt, daß sie beim Chorus mutig weitersingen mußte, auch wenn Andreas mit der zweiten Stimme dazukam. Der harmonische Gesang klang grandios, sie hörte es selbst und wurde dadurch immer sicherer.
Gleich nach dem Schlußakkord sprang Andreas auf und kam strahlend auf sie zu. „Super!" sagte er. „Wenn das die anderen hören!"
Nina strahlte mit. Zum ersten Mal, dachte sie, zum ersten Mal seit Monaten habe ich das Gefühl, etwas richtig gut gemacht zu haben. „Wann ist denn der nächste Probetermin der Band?" fragte sie.
„Heute abend", lachte er. „Ungefähr in zwei Stunden."
„Schluck!" Nina spürte ihre Knie zittern. „Ich glaube, ich traue mich nicht."
Er streckte beide Hände aus und legte sie ihr auf die Schultern. Die Stellen, wo er sie berührte, fühlten sich an, als ob Funken sprühten. „Du mußt", lächelte er. „Alles andere wäre eine unverantwortliche Vernachlässigung deines Talents. Laß dir das von einem Experten sagen."
Sie hörte kaum, was er sagte. Seine Stimme, die sich gerade so phantastisch mit ihrer gemischt hatte, klang so sicher, zärtlich, so liebevoll, so richtig... Wie es wohl wäre, ihn zu küssen? Oder ihm noch viel näher zu kommen?
Es war der Gedanke an Kalle, der sie plötzlich aus der Traumstimmung herausriß. Ob er vor dem Krankenhaus auf der Straße wartete? Wie spät war es überhaupt? Entweder war er sowieso nicht gekommen, oder er war um diese Zeit schon wutentbrannt weggefahren.
Sie legte ihre Hand auf Andreas' Arm, eine Geste, die ganz selbstverständlich kam. „Okay, ich bin heute abend dabei. Wo probt ihr?"
Er gab ihr die Adresse eines Jugendzentrums in der Stadtmitte und sie verabschiedete sich schnell. Das herrliche Knistern zwischen ihr und Andreas konnte sie kaum ertragen. Wie sollte sie damit umgehen?
Die Sache mit Kalle muß ich noch einmal genau überdenken und dann schnellstens irgendwie regeln, dachte sie, aber das Singen mit Andreas lasse ich mir inzwischen keinesfalls entgehen.
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