6. Kapitel
Kalle erschien am nächsten Morgen pünktlich, und auch an den folgenden Tagen schien er sich mächtig zusammenzureißen. Nina behandelte ihn trotzdem distanziert und mit Vorsicht: Sie wollte keinesfalls noch einmal so überrumpelt werden wie an dem Abend in seiner Wohnung.
Andreas entpuppte sich als wahrer Schatz. Er half ihr dabei, im Krankenhaus an interessantere Tätigkeiten heranzukommen, so daß ihr die „Zwangsarbeit" von Tag zu Tag mehr Spaß machte. Bei den Proben mit seiner Band hatte er viel Geduld, wenn sie sich in den Gesangsstil einzelner Songs erst einfinden mußte. Er zeigte ihr deutlich, daß er von ihrem Talent begeistert war.
Kalle hatte es sich nicht nehmen lassen, am Schluß jedes Probenabends mit seinem Motorrad vor dem Jugendzentrum aufzutauchen, um Nina abzuholen. Jedesmal schlug er vor, sie solle mit zu ihm kommen, und zog ein langes Gesicht, weil sie lieber nach Hause wollte. Er wurde zusehends ungeduldiger.
An einem Samstagmittag - es war eine Woche vor dem Auftritt im Rizz - waren Nina und Kalle mit dem Motorrad zu einem Picknick an den Baggersee gefahren. Kalle war trotz des schönen Herbsttages schon die ganze Zeit gereizt, weil es ihm nicht paßte, daß die Band sich für den späten Nachmittag zu einer Extraprobe verabredet hatte.
Er nahm für sich eine Dose Bier aus der Kühltasche und reichte Nina auch eine. „Hier", sagte er. „Damit du endlich wieder mal in Stimmung kommst." Ein zynischer Unterton war unüberhörbar.
Sie schüttelte den Kopf. „Ich bleibe bei Cola", sagte sie. „Und mir wäre erheblich wohler, wenn du als Fahrer auch kein Bier trinken würdest."
Sein angestauter Groll entlud sich plötzlich. „Jetzt fang nicht auch noch an, mir das Bier vorzuzählen! Es reicht ja wohl, wenn du dich wochenlang als unberührbare Zicke aufspielst! Ist dir klar, daß du mich gerade am ausgestreckten Arm verhungern läßt? Ich wette, dein musikalischer Guru kriegt mehr Streicheleinheiten von dir als ich." Kalle stapfte wütend am Ufer auf und ab. Schließlich baute er sich drohend vor ihr auf. „Ich glaube, der Typ ist dir entschieden zu nahe gekommen. Ich sag dir, wenn ich mitkriege, daß da was läuft... Ich mach ihn fertig!" Er nahm einen tiefen Schluck aus seiner Bierdose. Schaum rann ihm über das stoppelige Kinn.
Nina beschloß, ruhig zu bleiben. „Du hast dich bekleckert", sagte sie ungerührt.
Er kam wutschnaubend noch einen Schritt näher und zog sie an sich. Der Bierdunst hüllte sie ein wie eine Wolke. Sie versuchte sich Kalle vom Leib zu halten, aber er war viel stärker.
„Anstatt mir Vorschriften zu machen, solltest du lieber mit mir zusammenarbeiten", zischte er. „Wenn du in deinem blöden Krankenhaus nicht zu so einem lieben Kind umgekrempelt worden wärst, hätten wir beide schon längst ein tolles Ding hinkriegen können."
„Das letzte tolle Ding hat mich vor den Kadi gebracht", hielt sie ihm entgegen.
Kalle ließ sich davon nicht bremsen. „Du hast doch sicher schon herausgefunden, wo die Docs ihren Giftschrank haben", hörte sie ihn sagen. „Morphium läßt sich ziemlich gut verkaufen."
Sie ballte die Fäuste und trommelte wütend auf seine lederbewehrte Brust. Ebenso gut hätte sie auf eine Mauer einschlagen können. „Du bist ja irre", keuchte sie.
„Irre geil", griente er. „Auf dich. Besonders wenn du so strampelst."
„Ich dachte, das hätten wir geklärt", sagte sie heftig. „So kriegst du mich nicht!"
„Wetten?" Seine Hände wühlten sich unter ihren Pullover. Nina spürte, daß sie ihm hier draußen an dem einsamen See völlig ausgeliefert war. Sie bekam wirkliche, lähmende Angst vor dem, was jetzt kommen würde. Gleichzeitig begriff sie, daß sie Kalle nie wieder vertrauen durfte.
Sie mochte sich kaum vorstellen, was passiert wäre, wenn nicht in diesem Augenblick zwei Autos auf dem nahen Feldweg angehalten hätten. Aus den beiden Vehikeln quoll eine rund zwölfköpfige Großfamilie hervor, die sich mit Kind, Kegel, Grill und Musikanlage lärmend und lachend auf den Weg zum Seeufer machte, wo Kalle und Nina standen.
Kalle ließ notgedrungen von ihr ab. „Komm, Baby", sagte er. „Wir fahren zu mir, da sind wir ungestört."
Erleichtert raffte sie die Picknicksachen zusammen. Das war’s jetzt endgültig, dachte sie bei sich. Sie traute sich aber nicht, es ihm in diesem Moment zu sagen, dazu war er zu unberechenbar.
Wie immer dirigierte Kalles Laune den Gashebel. In halsbrecherischem Tempo fetzte er zurück in die Stadt, jagte die breiten Straßen entlang und entging zweimal ganz knapp der Kollision mit Autos. Nina hoffte auf eine rote Ampel. Endlich mußte Kalle einmal anhalten. Unmittelbar bevor er wieder Grün bekam, stieg sie ab und lief an den Straßenrand. Er bemerkte es zu spät. Mit aufheulendem Motor schoß er noch bis mitten auf die Kreuzung, bremste dann mit quietschenden Reifen und drehte sich zu ihr um. Er brüllte etwas in ihre Richtung, aber es ging im Hupkonzert der nachfolgenden Autos unter, denen er im Weg stand.
Nina blieb gleich in der City. Zu Hause wäre sie doch wahrscheinlich von Kalle heimgesucht worden, entweder persönlich oder per Telefonterror. Sie versuchte Melanie anzurufen, aber die war nicht zu Hause. Nina lief einige Stunden ziellos herum, trank zwischendurch einen Cappuccino und fand sich zur verabredeten Zeit im Übungskeller des Jugendzentrums ein.
Bei der Probe fiel es ihr wirklich schwer, bei der Sache zu bleiben. Ein halbes Dutzend Male verpaßte sie Einsätze, vertauschte die Strophen und fand ihre Background-Stimme nicht. Ihre neuen Freunde nahmen es mit Humor und Geduld, aber Nina merkte natürlich, daß sie heute der Sand im Getriebe war. Sie mochte Andreas kaum in die Augen sehen. Ob er wohl enttäuscht von ihr war?
Offenbar nicht, sagte sie sich sofort. Er war nämlich heute ganz besonders aufmerksam zu ihr. „Du hast heute einen schlechten Tag, was?" fragte er sie, als die Instrumente und Verstärker eingepackt waren. Ritchie, George und Lutz verabschiedeten sich und trugen die Kisten hinaus.
Sie nickte. „Allerdings. Ich hatte ziemlichen Ärger mit meinem Freund. Mit meinem Ex-Freund, um genau zu sein. Es reicht mir nämlich jetzt."
In wenigen Worten beschrieb sie ihm, was am See passiert war. Andreas war sichtlich geschockt. „Ich hätte nicht gedacht, daß du an solch einen Brutalo geraten könntest", sagte er. „Du machst den Eindruck, daß du dich sehr wohl durchsetzen kannst."
„Das kann ich auch tatsächlich", sagte sie. „Aber ihn habe ich viel zu lange gewähren lassen. Frag mich jetzt nicht, wieso - es war einfach ein gewaltiger Irrtum." Ein dicker Kloß saß in ihrem Hals. Eine Träne rollte.
Andreas legte ganz behutsam einen Arm um sie. Sie vergrub schluchzend ihren Kopf an seiner Schulter, und er strich sanft über ihre Haare. Lange standen sie so, ohne zu reden. Einmal versuchte sie etwas zu sagen, aber die Worte gingen in Tränen unter, und Andreas flüsterte: „Psssst... Don’t speak..."
Als sie in seinen Armen wieder ganz ruhig geworden war, hob sie den Kopf und sah Andreas in die dunklen Augen. Er hielt sie einfach nur, tröstend, beschützend und warm. Was für ein Unterschied, dachte sie. Vor ihm muß ich nicht das kleinste bißchen Angst haben. Was für ein gutes Gefühl! Sie lächelte zaghaft.
Lautes Poltern von der schweren Kellertür her beendete den schönen Moment. Entsetzt sah sie Kalle hereinstürmen, das Gesicht wutverzerrt. An seinen Augen sah sie, daß er betrunken war.
„Ich hab’s doch gewußt!" schrie er unbeherrscht. „Ich mach dich alle, du..." Er senkte den Kopf wie ein angreifender Stier und schoß auf Andreas zu.
Nina sah vor ihrem inneren Auge schon, was passieren würde: Kalle, fast einen halben Kopf größer und erheblich massiver als Andreas, würde ihn einfach zu Boden walzen! Sie versuchte sich dem Angreifer in den Weg zu stellen, aber Andreas schob sie mit einer erstaunlich kraftvollen Armbewegung aus der Gefahrenzone.
Dann ging alles sehr schnell: Andreas brauchte nur ganz wenig Kraft, dafür aber eine wohldosierte Körperwendung und einen exakt berechneten Hüftschwung. Kalle hob unversehens vom Boden ab, vollführte in der Luft eine unbeholfene Drehung wie ein schwerer Baumstamm, segelte über den gebückten Andreas hinweg und krachte mit dem Rücken auf den gefliesten Fußboden.
Der steht nicht wieder auf, dachte Nina erschrocken, aber Kalle rappelte sich schon wieder hoch und griff nun nach ihrem Arm. „Komm, wir gehen", keuchte er mühsam.
„Laß sie los und faß sie nie wieder an", sagte Andreas ganz ruhig. Er stand direkt hinter Kalle. Der drehte sich um und versuchte einen Faustschlag zu landen - vergeblich. Andreas nutzte den Schwung des Schlages wiederum geschickt aus, und wie von Zauberhand fand Kalle sich abermals rücklings auf dem Boden wieder.
Diesmal dauerte es ein wenig länger, bis er hochkam. Er gab offenbar auf. Mit schmerzverzerrtem Gesicht hinkte er zur Ausgangstür. „Wir sprechen uns noch", drohte er atemlos.
Nina zitterte am ganzen Körper vor Schreck und Aufregung. Es dauerte fast eine Viertelstunde, bis sie sich halbwegs beruhigte. „Ich bringe dich nach Hause", sagte Andreas, als sie vor der Tür des Jugendzentrums in der kühlen Nachtluft standen.
„Gerne", sagte Nina dankbar. „Ich wäre jetzt nicht gern allein unterwegs." Andreas schloß sein Fahrrad auf und sie setzte sich vor ihm im „Damensitz" auf die Stange. „Das ist eigentlich verboten", sagte sie verschmitzt. „Kannst du das mit deinem Gewissen vereinbaren?"
Er lächelte zurück. „Es ist doch dunkel", sagte er und radelte los. Sie konnte sich bequem zwischen seine Arme schmiegen.
„Was war das, was du mit Kalle gemacht hast?" fragte sie ihn.
„Eine Kombination von mehreren asiatischen Techniken", sagte er. „Sehr wirkungsvoll."
„Das würde ich gerne lernen", sagte sie.
„Kein Problem", sagte er. „Ich unterrichte dieses Zeug im Sportverein."
„Dann kannst du mir das auch beibringen?"
„Logo!"
„Ich kann es kaum glauben", sagte sie. „Ich benutze solche Worte wie ‘lernen’ und ‘beibringen’, dabei hatte ich bis vor ein paar Tagen ganz fest vor, damit für alle Zeiten Schluß zu machen. Ich wollte von der Schule abgehen und sofort Geld verdienen."
„Und das willst du jetzt nicht mehr?"
„Ich glaube nicht. Ich werde es mir auf jeden Fall noch überlegen."
„Du hast dich in den letzten vierzehn Tagen, also seitdem ich dich kenne, sowieso radikal verändert", sagte Andreas. Sein Gesicht war ihr so nahe, daß sie seinen warmen Atem an ihrem Ohr und ihrem Hals spürte, wenn er sprach. „Du hattest zuerst einen richtigen Horror vor der Klinik. Jetzt kommst du jeden Morgen ganz fröhlich zur Arbeit."
Sie nickte. „Ich hatte eine Menge geistigen Schrott von Kalle übernommen", gab sie zu. „Ich fand seine Art lässig und cool, dabei ist er nur gedankenlos und egoistisch. Bei der Arbeit in der Klinik habe ich gesehen, daß es auch noch etwas anderes gibt, und daß es sich lohnt, dafür etwas zu tun. Das habt ihr mir gezeigt, die Ärzte, die Schwestern, die Pfleger - und du."
„Es gibt noch mehr Veränderungen", sagte Andreas. „Zu Anfang warst du eine unausstehliche Kratzbürste..."
„Danke, sehr freundlich!"
„...jetzt kann man mit dir richtig reden."
„Ich weiß auch noch eine Veränderung", sagte sie. „Zu Anfang fand ich dich unmöglich."
„Und jetzt?"
Statt einer Antwort legte sie eine Hand auf seinen Arm und ließ sie dort liegen.
„Kommst du mit rein?" fragte sie, als sie vor ihrem Haus von seinem Fahrrad stieg.
Er nahm ihr Gesicht in beide Hände. Lange sahen sie sich an. Die Luft schien zu knistern. Durch seine Finger auf ihren Wangen strömte eine himmlische Wärme zu ihr herüber. Sie schloß überwältigt die Augen.
Dann fühlte sie seinen Mund auf ihrem, ganz behutsam zuerst. Sie öffnete die Lippen und drängte sich ihm entgegen. Zärtlich nahm Andreas sie in die Arme und sie spürte, wie ihr ganzer Körper sich entspannte, sich weich und hingebungsvoll an ihn schmiegte. Daß es das gibt, dachte sie flüchtig: ein Kuß, bei dem ich nicht wie bei Kalle in Abwehrstellung gehen muß... Aber das sollte für endlose Minuten ihr letzter Gedanke an Kalle sein.
Ihre Zungen begannen miteinander zu spielen. Immer inniger wurde die Umarmung. Nina streichelte Andreas’ Rücken, zerzauste seine Haare. Seine Hände hatten den Weg unter ihre Jacke gefunden und sie spürte seine prickelnde Wärme jetzt überall. Ich träume, dachte sie. So kann es also auch sein, so ruhig, so voller Harmonie. Ein wundervolles Gefühl breitete sich in ihr aus. Sie zog Andreas noch näher an sich, strich über sein Gesicht, seinen Nacken, genoß den Duft seiner Haut. Ihr Herz schmerzte fast vor Glück.
Erst ein kühler Windstoß erinnerte Nina daran, daß sie ihm eine Frage gestellt und noch keine Antwort bekommen hatte. „Laß uns reingehen", sagte sie.
Er sah sie liebevoll und ernst an. „Nina, ich glaube nicht, daß wir das tun sollten. Du hast dich gerade heute von Kalle getrennt. Das heißt, genau genommen ist das ja zwischen euch noch nicht einmal geklärt. Willst du da nicht ein wenig Abstand gewinnen? Ich möchte sicher sein, daß du auch innerlich ganz und gar bei mir bist. Komm doch erst einmal wieder zu dir." Er lächelte und fuhr fort: „Bevor ich zu dir komme."
Seine Worte brachten die Geschehnisse des Tages zurück. Die Bilder standen ihr deutlich vor Augen und ließen sich kaum wegwischen. Schweren Herzens nickte sie. „Da ist was dran", sagte sie, „aber versprich mir, daß wir uns morgen früh sehen."
„Versprochen. Ich könnte dich abholen, und wir frühstücken im Alex".
„Einverstanden."
Sie versanken noch einmal in einem langen, zärtlichen Abschiedskuß, bevor Nina ins Haus schlüpfte.
Hier geht es weiter...