5. Kapitel
Am nächsten Morgen stand Kalle pünktlich auf der Matte, um sie abzuholen. Während er in seinem üblichen Tempo durch die Stadt raste, hielt sie sich an Kalles breitem Rücken fest, war aber mit ihren Gedanken ganz woanders.
Vor dem Krankenhaustor stieg sie ab. „Meine Eltern wissen jetzt, daß ich die Schule schmeiße", sagte sie.
Er nickte. „Gut."
Es gefiel ihr nicht, wie unbeteiligt er klang. „Es gab natürlich Stunk", sagte sie.
„Klar, Baby. Aber sie werden sich dran gewöhnen."
„Du hast gut reden! Du mußt es ja nicht aushalten, wenn sie mir die Hölle heiß machen."
Er nahm seinen Helm ab und zeigte seine Gewinnermiene. „Du mußt es auch nicht aushalten", sagte er. „Komm doch zu mir, dann können sie dir den Buckel runterrutschen."
Sie hatten darüber schon gesprochen, und Nina hatte immer tausend Gründe gefunden, warum sie nicht kurzerhand zu Kalle ziehen konnte. In diesem Moment spürte sie einen Grund, der ihr wichtiger war als alle logischen Argumente: Es fühlte sich einfach nicht richtig an. Er war nicht der Mann, den sie in ihm gesehen hatte. Seltsam, er hatte sich gar nicht verändert, aber sie sah jetzt in seinem Gesicht nicht mehr das siegessichere Strahlen, sondern ein hämisches Grinsen.
„Ich muß jetzt rein", sagte sie und wollte sich schon umdrehen.
„Hey, warte", rief er. Er zog sie an sich und preßte einen harten, stachligen Kuß auf ihren Mund. Dann sagte er: „Mach’s gut, Baby. Sehen wir uns heute abend?"
„Hol mich doch hier ab", sagte sie, mehr aus Gewohnheit als aus Überzeugung.
„Okay." Er zog sie noch einmal zu sich heran, daß sie fast das Gleichgewicht verlor, und küßte sie stürmisch. Seine kräftigen Arme hielten sie fest wie Eisenklammern. Nina sah aus dem Augenwinkel, daß Schwester Hildegard vorbeilief und belustigt herübersah. Wie peinlich!
Endlich ließ Kalle von ihr ab. „Bis dann", sagte sie schnell und wandte sich zum Gehen. „Ciao, Baby", rief er hinter ihr her, und zum ersten Mal wünschte sie sich, er würde sie nicht Baby nennen.
Auf dem Flur der Station siebzehn traf sie Andreas, der gerade die morgendliche Runde durch die Krankenzimmer begann. Zu ihrer großen Freude trug Schwester Hildegard ihr auf, ihn zu begleiten. Nun konnte sie nicht nur mit Andreas zusammensein, sondern auch noch für einen Teil des Vormittags der stupiden Hilfsarbeit in der Küche und der Wäschekammer entkommen. Andreas nahm sich diesmal viel Zeit für Erklärungen. Er sagte ihr auch, daß er bestimmte Dinge mit den Patienten keinesfalls machen durfte, weil ihm die medizinische Ausbildung fehlte.
„Ich darf denen zum Beispiel keine Spritzen geben", sagte er und fügte dann lachend hinzu: „Obwohl ich bei einigen nicht übel Lust hätte, sie ein bißchen in den Hintern zu pieken. Den hier zum Beispiel." Er zeigte auf den Unglücksfahrer Klaus, an dessen Bett sie gerade standen, aber Klaus lachte nicht mit.
„Ich werde gleich in den OP gebracht", sagte er. „Drückt mir die Daumen, daß die Docs meine Knochen wieder voreinander kriegen." Seine Aussprache klang ein bißchen verwaschen und undeutlich.
„Haben sie dich schon ordentlich gedopt?" fragte Andreas.
„Das übliche Beruhigungszeug", nuschelte Klaus. „Und ein Schmerzmittel ins rechte Bein, weil es ja bewegt wird, wenn sie mich auf den Tisch heben. Das ist total taub." Der große, kräftige Mann war kaum zu verstehen.
„Dann paß auf, daß du nicht mangels Schmerzen aus Versehen aufstehst und wegläufst", sagte Andreas.
„Da mach dir mal keine Sorgen", kam es leise aus Klaus’ Rauschebart, „ich bin viel zu schwach. Und mir ist so schlecht... Könntest du nicht, äh..." Seine Stimme wurde immer zittriger. „Schwindlig ist mir. Und warum ist es hier jetzt so dunkel? Hey, laßt mich doch nicht alleine..." Er schnappte einmal heftig nach Luft, dann blieb sein Mund offen stehen und seine Augen verdrehten sich zu einem schrecklichen Schielen. Ninas Knie begannen zu zittern, als sie es bemerkte. Es sah grauenhaft aus. Sie bekam große Angst um ihn.
Andreas griff nach Klaus’ Handgelenk und tastete nach dem Puls. Nina angelte nach dem Klingelknopf, der über dem Bett hing.
„Das dauert zu lange", sagte Andreas ungeduldig, als er ihre Bewegung sah. „Ich hole Dr. Breiter!" rief er und war schon draußen.
Nina stand ratlos neben Klaus und überlegte fieberhaft, ob sie etwas tun konnte. Sie sah sich um. Der andere Patient war gerade nicht im Zimmer; sie war mit dem leblosen Mann ganz allein. Sie beugte sich über ihn und hörte keinen Atem. Vorsichtig nahm sie seine Hand; sie war eiskalt und klamm. Sie versuchte den Puls zu fühlen, fand ihn aber nicht. Entsetzt richtete sie sich auf. Was war, wenn Klaus jetzt starb? Oder schon tot war?
Ihr wurde klar, wie hilflos und ohnmächtig sie war. Sie hatte keine Ahnung, was sie tun konnte. Sie wünschte sich in diesem Moment, eine routinierte Krankenschwester zu sein. Die würde ganz souverän mit der Situation umgehen. Und sie? Sie hatte nicht einmal die primitivsten Grundlagen der Ersten Hilfe drauf. Sie konnte nichts für ihn tun, gar nichts. Sie konnte nur tatenlos hier stehen und zusehen, wie er vielleicht starb...
Die Tür wurde aufgerissen und Frau Dr. Breiter kam eilig herein, ein junger Arzt und Andreas in ihrem Gefolge. Hastig horchte sie mit dem Stethoskop nach Klaus’ Herztönen, legte ihm eine Gummimanschette um den Arm und maß den Blutdruck, leuchtete auch mit einem Stablämpchen in seine Augen. Dann sah sie auf und sagte: „Rufen Sie Hildegard, schnell. Sie soll eine Notfalldosis Cardiodur aufziehen."
Nina stand am nächsten an der Tür. Erleichtert, endlich etwas tun zu können, stürmte sie auf den Korridor. Zum Glück saß Schwester Hildegard an ihrem Platz. „Cardiodur!" richtete Nina aus und war ein kleines bißchen stolz darauf, daß sie das tat und daß sie den Namen des Mittels richtig behalten hatte. „Eine Notfalldosis für Klaus in der 1708."
Die Schwester sprang auf und öffnete einen Stahlschrank. Sie holte ein Glasampulle heraus, brach sie auf und zog den Inhalt in eine Spritze. Quälend lange Sekunden vergingen.
„Was ist denn wohl mit ihm?" fragte Nina. Ihre Knie zitterten noch immer. „Kommt er wieder zu sich?"
Schwester Hildegard sah sie an und nickte zuversichtlich. „Wir tun unser Bestes. Wahrscheinlich ist nur sein Kreislauf zusammengebrochen - vielleicht eine Unverträglichkeit gegen die Medikamente, die er bekommen hat, oder durch den Stress vor der Operation."
Die Spritze war fertig und Hildegard brachte sie im Laufschritt ins Krankenzimmer. Nina folgte ihr und blieb in einiger Entfernung stehen. Sie sah, wie Dr. Breiter die Spritze setzte und dann die Herztöne, den Puls und den Blutdruck kontrollierte. Ihr junger Kollege leuchtete dem Patienten wieder in die Augen, um die Reaktion zu testen. Andreas wischte Klaus mit einem Tuch den kalten Schweiß aus dem Gesicht.
Es dauerte eine endlose Minute, bevor Klaus ein deutliches Lebenszeichen von sich gab. Er stöhnte laut, und endlich bewegten sich seine Augen wieder in eine halbwegs normale Stellung. Nina atmete hörbar auf.
Die Ärztin wandte sich zu ihr um und lächelte. „Sind Sie erschrocken? Die Gefahr ist vorbei. Er hat Glück gehabt, daß Sie beide gerade bei ihm waren."
Nina schüttelte den Kopf. „Gut, daß Sie so schnell kommen konnten", sagte sie. „Ich war schrecklich hilflos und dachte, er stirbt..." Sie wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. „Ich fand es so furchtbar, einfach nur dazustehen und nicht zu wissen, was ich tun sollte!"
Dr. Breiter, ihr Kollege und Andreas standen am Krankenbett und sahen jetzt alle zu Nina herüber. Die Ärztin strich Klaus eine schweißverklebte Haarsträhne aus der Stirn und sagte lächelnd zu Nina: „Dann lernen Sie es doch..."
Genau daran habe ich gerade gedacht, ging es ihr durch den Kopf.
„Hey, wohin fährst du denn?" Nina wäre fast vom Soziussitz gefallen, als Kalle plötzlich rasant in eine Nebenstraße einbog.
„Überraschung!" brüllte er durch seinen Helm.
Nina hatte an diesem Tag eigentlich genug Überraschendes erlebt, aber als Kalle schließlich auf dem Parkstreifen vor dem Eiscafé Fiorello anhielt, freute sie sich doch. Kalle wußte, daß es hier ihr Lieblingseis gab.
„Hier ist heute Restevertilgen angesagt", sagte er, als sie beide abgestiegen waren. „Letzter Tag der Saison."
Da es momentan nicht regnete, standen sogar die Tische und Stühle draußen auf der Terrasse. Aus den Lautsprechern in den Ahornbäumen plärrte Eros Ramazotti. Es dauerte eine Weile, bis sie die Runde durch das Café gemacht hatten: Das Saisonfinale war ein beliebter Treffpunkt, und fast ein Dutzend von Ninas Schulfreunden war da. Kalle traf ebenfalls mehrere Bekannte, und das Begrüßen nahm kein Ende. Während er noch mit Luigi sprach, dem Inhaber des Cafés, sah Nina Melanie von der Straße heraufkommen. Sie sah auch, daß Kalle deswegen genervt die Augen verdrehte, aber sie ging trotzdem zu ihrer Freundin hinüber und setzte sich schließlich mit ihr an einen freiwerdenden Tisch.
„Nun erzähl mir doch gefälligst mal, was gestern los war", sagte Melanie ein bißchen beleidigt, nachdem sie ihre Eisbecher bestellt hatten. „Du hast mich am Telefon einfach so abgehängt."
„Tut mir leid", sagte Nina. „Ich war doch gerade dabei, meine Sünden herumzuposaunen, und plötzlich stand Andreas da - weißt du, der Musiker und Zivi. Er hatte alles gehört. Ich wäre vor Peinlichkeit fast zusammengebrochen!"
„Aber du klingst jetzt so fröhlich, als hättest du die Situation heil überstanden." Melanie sah sie neugierig an.
Nina griente in sich hinein. „Ja..."
„Komm, erzähl schon!"
„Er hat das alles ganz locker hingenommen. Und das Stärkste: Er hat mich in seine Band eingeschleust. Die Sängerin, weißt du, die große Blonde, die verläßt die Gruppe. Und jetzt haben sie statt dessen mich."
Melanie war sprachlos. „Das kannst du?"
Nina nickte. „Ich bin ein Naturtalent, sagen die Jungs."
„Wann kann man sich das mal anhören?"
„Der nächste Auftritt ist am letzten Ferienwochenende im Rizz. Bis dahin kann ich zumindest einige der Songs schon übernehmen."
Melanie machte eine bewundernde Geste. „Super. Herzlichen Glückwunsch. Das ist ja ein einziger Traum! Und... sag mal... äh..."
„Ja?" Nina lachte gutgelaunt. „Sprich dich aus."
Mel konnte natürlich kaum abwarten, mehr zu erfahren. „Wie ist der Andy so privat?"
„Hm, laß mal überlegen. Wie sag ich das..." Sie wurde unterbrochen, weil die Kellnerin die Eisbecher servierte. Aber sie hätte auch sonst gezögert. Sie wußte nämlich wirklich nicht, wie sie ihren Eindruck von Andreas in Worte fassen sollte. Sie spürte nur, daß der Gedanke an ihn ein sehr angenehmes Gefühl mit sich brachte.
Bevor sie weitersprechen konnte, verdunkelte sich plötzlich Melanies Gesicht. Sie hatte Kalle erspäht, der jetzt zu ihrem Tisch herüberkam. „Ach, den hast du immer noch dabei", sagte sie mißmutig, bevor er in Hörweite war.
„Heute hätte in der Station beinahe einer den Löffel abgegeben", wechselte Nina das Thema, während Kalle sich neben sie setzte und Melanie geflissentlich übersah. Während sie ihr Eis löffelten, erzählte sie von der kritischen Situation mit Klaus, von dem eiligen Einsatz der Ärztin und von ihrer eigenen Hilflosigkeit.
„Wie furchtbar!" sagte Melanie. „Gar nichts tun zu können, einfach nur zusehen zu müssen, wie jemand so langsam in die ewigen Jagdgründe abrutscht..."
Nina nickte. „Ich möchte es nicht noch einmal erleben. Beim nächsten Mal möchte ich handeln können."
Melanie horchte überrascht auf. „Was heißt das? Willst du..."
Nina versuchte ihren Gedanken, der noch gar nicht auf so festen Füßen stand, in Worte zu fassen. „Weißt du, ich habe einfach gesehen, wie die Ärztin ganz cool und kompetent zur Tat schritt. Auch der jüngere Doc hatte sofort die richtigen Handgriffe drauf. Sogar der Zivi..." - sie vermied den Namen Andreas - „...wußte, was zu tun war. In dem Augenblick habe ich mir echt gewünscht, ich könnte das auch."
Kalle lehnte sich demonstrativ in seinem Stuhl zurück und schnaubte verächtlich. „Wirst du jetzt zur Mutter Teresa umgepolt?"
Melanie ignorierte ihn ebenso wie er sie. „Über einen stinknormalen Erste-Hilfe-Kurs kommst du aber nicht hinaus, wenn du jetzt die Schule sausen läßt", sagte sie.
Kalle räusperte sich geräuschvoll. Bevor er etwas sagen konnte, sprach Melanie weiter.
„Wenn du ohne Abschluß bleibst, dann machst du weiterhin die Drecksarbeit, von der du mir erzählt hast. Unqualifizierte Handlangerdienste. Langeweile in Tüten. Weißt du - die Ärztin, die du so bewundert hast, hat ihre Schule bestimmt nicht geschmissen."
„Ärzte sind ein aufgeblasenes, geldgeiles Akademikervolk", sagte Kalle in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ.
Nina stöhnte laut auf. „Geht die Streiterei schon wieder los! Können wir von etwas anderem reden?"
„Ich schon", sagte Melanie gereizt, nahm ihren Eisbecher in die Hand und stand auf. „Ich gehe zu Doris und Lena an den Tisch."
„Arrogantes Bürgertöchterchen", sagte Kalle, als Mel gegangen war. „Laß dir von ihr nichts einreden. Die ist ja völlig elternhörig und angepaßt. Wenn es nach der dummen Tussi und ihren Ratschlägen ginge, dann... Ach, was weiß ich. Dann wärst du wahrscheinlich noch Jungfrau."
Und was wäre daran so schlimm, dachte sie.
„Was hast du denn heute so gemacht?" fragte sie ihn. Ich werde langsam Expertin im Themenwechseln, dachte sie.
Er zeigte seine Zähne. „Fotos", sagte er. „Ist doch mein Job."
Wenn es um seine Arbeit ging, war er immer so kurz angebunden. Einmal, als sie ihn ganz arglos fragte, warum er seine Kameras nicht dabei hätte, hatte er richtig böse reagiert. Inzwischen wußte sie, daß er manchmal auch andere Sachen machte, Gelegenheitsarbeiten von Autoreparaturen bis zum Handel mit gebrauchter Elektronik.
„Ich habe auch einen Job", sagte sie und fand, daß es sich sehr gut anhörte. „Andreas Kuhl hat mich gestern zur Probe seiner Band mitgenommen. Ich soll als Sängerin einsteigen."
„Ja", sagte er. Sein überlegener Gesichtsausdruck war verschwunden. „Das hast du gestern am Telefon gesagt."
„Und?"
„Was und?"
„Willst du mich nicht fragen, wie’s war?"
„Okay, okay. Also: wie war’s?"
„Ach, vergiß es", platzte Nina heraus. „Das interessiert dich keinen Fatz. Ich habe da etwas erlebt, was mich total umgehauen hat. Es war spitze. Es war affenstark. Diese satte Musik, und ich mittendrin, als Leadsängerin, mit Mikro und Verstärker und allem... Und du willst nicht mal wissen, ob es geklappt hat!"
„Hat es?"
„Ja. Sag ich doch." Ihre gute Laune war restlos verflogen. „Ich mach da jetzt mit. Der erste Auftritt ist in zweieinhalb Wochen."
„Na fein." Kalle beugte sich zu ihr herüber und nahm ihre Hand in seine, eine Spur zu fest. Seine hellblauen Augen nahmen einen stechenden Blick an. „Und der Bandleader bringt dich nachts nach Hause! Wie fürsorglich und romantisch! Mein Baby hat jetzt eine Band mit Familienanschluß! Na bravo!"
Nina konnte es nicht fassen. „Du hast mich bespitzelt?"
„Was heißt schon bespitzelt! Ich wollte dich gern noch sehen, wenn du nach Haus kommst. Ja, und dann kamst du und warst nicht allein."
„Ich habe mir nichts vorzuwerfen", sagte sie trotzig.
Seine Stimme hatte plötzlich einen eisigen Ton. „Das würde ich dir auch nicht raten", sagte er. „Ich will dich nämlich behalten. Also denk dran, wo du hingehörst. Du darfst in der Gruppe gerne mitträllern. Aber der Typ faßt dich nicht an. Verstanden?"
Nina war völlig sprachlos. Kalle war ja grauenhaft eifersüchtig! Deshalb also hatte er sich heute so ins Zeug gelegt, hatte sie schon morgens pünktlich abgeholt, hatte sie vor der Klinik zum Abschied heftig abgeknutscht und hatte sie jetzt in ihr geliebtes Fiorello gefahren: Er wollte Punkte sammeln! „Du hast ja ‘ne Meise", sagte sie endlich. „Ich bin doch nicht dein Privateigentum! Es ist ja wohl die Höhe, wenn du so tust, als bräuchte ich fürs Singen deine Erlaubnis!"
„Ich sag’s nochmal", sagte er. „Keine Turtelei mit dem musikalischen Radfahrer. Verstanden?"
Nina schüttelte fassungslos den Kopf. Du hast sie ja nicht alle, wollte sie gerade sagen, aber er kam ihr zuvor. Sein jungenhaftes Grinsen war wieder da, und er fragte: „War doch ‘ne feine Idee, hier noch die letzten Eisbecher zu verputzen, oder?" Er streckte die Hand aus und streichelte ihre Wange. „Ich weiß immer, was du brauchst, Baby." Seine Hand wanderte an ihr hinunter und blieb heiß und fest auf ihrer schwarzen Jeans liegen, die Spitze seines kleinen Fingers exakt und mit Nachdruck beim unteren Ende des Reißverschlusses.
Sie fühlte sich völlig konfus. Das muß ich mir noch mal schwer überlegen, dachte sie, ob ich überhaupt dich brauche.
Eine Stunde später saß sie mit ihm am Küchentisch seiner Etagenwohnung, hatte an seinen leicht angebrannten Bratkartoffeln genippt und dazu zwei Gläser Wein getrunken. Zwei Gläser zuviel, dachte sie. Ich brauche bei diesem Mann unbedingt einen klaren Kopf.
„Möchtest du noch?" fragte er in diesem Augenblick und hatte schon wieder die Flasche in der Hand.
„Lieber nicht", sagte sie.
Er goß ungerührt ihr Glas voll. „Wir haben etwas zu feiern", sagte er. „Ich habe mit ein paar Autoradios ein gutes Geschäft gemacht. Komm, trinken wir drauf."
„Nein", sagte sie. „Was war denn das für ein Geschäft?"
Er winkte ab. „Das würde dich nicht interessieren. Ich habe von einem Kumpel ein paar gebrauchte Radios übernommen und habe sie mit Gewinn losgeschlagen. Prost!" Er hob sein Glas.
Nina kannte ihn inzwischen gut genug. Das Geschäft war sicher nicht ganz astrein, dachte sie. Er hat wieder irgend eine krumme Tour gemacht. Und schon fiel ihr ein, was nach erfolgreichen krummen Touren gewöhnlich zwischen ihnen ablief.
Er stand auch prompt neben ihrem Stuhl, seine Hand auf ihrer Schulter. „Komm, wir machen es uns gemütlich."
Sie zögerte. Sie wußte genau, daß sie nicht mit ihm schlafen wollte. „Nein", sagte sie schließlich. „Ich... ich kann jetzt nicht."
„Hey", rief er aus. „Seit wann gibt’s denn bei dir lustlose Phasen?"
Sie versuchte so selbstsicher und natürlich wie möglich zu klingen: „Ich habe meine Tage."
Kalle ließ sich davon kein bißchen beeindrucken. „Oho", sagte er. Seine Hand wanderte in den Kragen ihres T-Shirts. „Dann veranstalten wir eben ein kleines Blutbad."
„Nein!" Nina nahm einen neuen Anlauf. „Ich habe rasende Bauchschmerzen. Alle paar Monate ist das so schlimm. Das ist sehr unangenehm..."
Er stand jetzt hinter ihr und hatte beide Hände in ihrem T-Shirt. Über der Stuhllehne, zwischen ihren Schulterblättern, spürte sie, wie sein harter Körper sich gegen sie drängte. „Ich verstehe, Baby. Aber glaub mir, gegen Regelschmerzen ist das beste Mittel ein stürmischer Orgasmus! Der Kreislauf, die Hormone, die Muskelkontraktionen - schwupp, Schmerzen weg. Ich schwöre dir als Fachmann: Es gibt keine Medizin, die beim Einnehmen angenehmer ist."
Sie stand rasch auf und nahm ihre ganze Energie zusammen. „Also, nochmal", sagte sie. „Ich habe meine Regel, es tut weh, und ich will nicht. Okay? Verstanden? Ich sage nein, und es heißt nein."
Er trat einen Schritt zurück und sah sie prüfend an. „Aha", sagte er dann. „Du hast also doch diesen Keyboardfuzzi im Kopf, ja? Paß bloß auf..."
„Jetzt halt endlich die Schnauze!" Nina wurde so wütend, daß sie keine Lust mehr hatte, sich gewählter auszudrücken. „Laß mich mit deiner Eifersucht in Ruhe, die ist ganz und gar dein Problem, nicht meins! Ich will jetzt, heute abend, von dir in Frieden gelassen werden. Wenn das nicht möglich ist, dann gehe ich sofort." Sie war selbst überrascht, wie laut sie werden konnte.
„Okay, okay, Baby", lenkte er ein und kam wieder einen Schritt näher. Er legte seine Hand auf ihre Wange und versuchte ein vertrauenerweckendes Gesicht aufzusetzen. „Ich verlange ja gar nichts. Laß uns einfach ins Bett gehen und ganz unschuldig ein Weilchen kuscheln."
Fast hätte sie sich entspannt, fast wäre sie auf seinen Vorschlag eingegangen, da zog er sie heftig an sich und sagte: „Der Appetit kommt beim Essen, die Lust kommt beim Schmusen, meinst du nicht?"
Sie machte sich gewaltsam von ihm los und rannte zur Wohnungstür. Für einen Moment überkam sie die Angst, er könnte abgeschlossen haben, aber so vorausschauend war er zum Glück nicht gewesen. Sie riß die Tür auf, schnappte sich noch schnell ihre Lederjacke vom Garderobenhaken und stürmte die Treppen hinunter.
Mama und Papa schauten sie überrascht an, als sie lautstark in die Wohnung gestürzt kam. Nina drängte sich wortlos an ihnen vorbei, nahm das Telefon mit in ihr Zimmer und schloß die Tür hinter sich.
„Ich mache mir ernste Sorgen um sie", sagte Herr Vensky. „Ich verstehe nicht, was mit ihr los ist. Ich habe Angst, daß wir sie nach und nach völlig verlieren."
Seine Frau schüttelte den Kopf. „Ich glaube, wir brauchen im Moment vor allem ein bißchen Geduld mit ihr. Ich habe sie gestern mit ihrem Kalle telefonieren hören, und ich sage dir, sie hat sich sehr vernünftig angehört."
Nina hatte sich inzwischen auf ihr Bett geworfen und Melanies Nummer gewählt.
„Mel, ich weiß nicht mehr weiter", sagte sie kleinlaut, als sie ihre Freundin an der Strippe hatte. Sie erzählte ihrer Freundin detailreich, wie Kalle sie bedrängt hatte.
„Das grenzt ja an Nötigung", sagte Melanie entrüstet. „Weißt du, für mich wäre das endgültig der Punkt, wo er mir nicht mehr zu nahe kommen dürfte. Wenn jemand ein deutliches Nein einfach überhört, hat er bei mir ausgespielt."
„Na ja", meinte Nina zerknirscht. „Vielleicht bin ich auch selbst schuld daran. Das war nämlich manchmal so eine Art Spiel zwischen uns - ich habe mich gesträubt, und er durfte dann trotzdem... Solche Spielereien können ganz schön heiß sein."
„Du siehst ja, was dabei herauskommt", sagte Melanie. „Ich bin mehr für klare Verhältnisse. Nein heißt nein."
„Und dein Michi akzeptiert das?"
„Na klar!" Melanie klang richtig fassungslos. „Was denkst du denn? Die Kerle haben das gefälligst zu akzeptieren. Wenn einer dich angrapscht, obwohl du nicht willst, dann ist das ja von seiner Seite aus wohl kaum die wahre Liebe. Es ist nicht einmal Respekt. Sorry - große Worte. Aber ist doch wahr, oder?"
„Ja", gab Nina zögernd zu. „Aber irgendwie ist es ja mit ihm auch immer wieder so gut..."
„Hör mal", fiel Mel ihr ins Wort. „Du findest also, daß Kalle der ultimative Lover ist, ja? Darf ich mal indiskret fragen, mit wie vielen anderen du ihn vergleichen kannst?"
„Das weißt du ganz genau", sagte Nina. „Vor ihm war doch nur dieser Kinderkram mit Tommi, und davor mit Harald aus der dreizehnten, der hat sich auch nicht so richtig getraut. Kalle war der erste - wie soll ich sagen? - der erste Erwachsene."
„Nina, jetzt hör aber auf. Erwachsensein heißt doch nicht, daß einer Motorrad fährt, ‘ne große Klappe hat und die Muskeln spielen läßt."
„Jaaaa!" Nina seufzte. „Und was mach ich jetzt?"
„Im Moment telefonierst du."
„Ach, Quatschkopf!" Nina lachte. „Was mache ich jetzt mit ihm?"
Melanie zögerte keine Sekunde. „Da du mich schon mal fragst: Schieß ihn in den Wind."
„Das kann ich doch nicht..."
„Dann laß es sein. Und wenn du meinen Rat nicht willst, dann frag nicht erst."
„Ach, Mel, sei mir nicht böse. Ich weiß einfach nicht weiter."
„Das sagtest du schon." Melanie war heute aber auch unerbittlich!
„Jetzt ist er auch noch eifersüchtig auf Andreas", sagte Nina.
Melanie horchte auf. „Hey, das klingt gut! Da kommt doch endlich Bewegung in die Angelegenheit. Und - hat er Grund dazu?"
„Eigentlich nicht", sagte Nina.
„Soso... Eigentlich..." Melanie lachte leise. „Kalle hat sehr wohl den Eindruck, daß Andreas ihm gefährlich wird, wetten? Und um ehrlich zu sein: Ich glaube das auch."
„Wieso?"
„Na, ist doch klar. Andreas ist eine echte Schnitte, das muß sogar Kalle gemerkt haben. Er sieht gut aus, singt wie eine Mischung aus Bryan Adams und Richard Marx, und er ist der musikalische Kopf von einer der besten Bands der Stadt. Dieser Wunderknabe hat dich nun sofort in seine Truppe reingezogen, das heißt, du wirst ihn ab sofort einmal pro Woche zur Probe einen ganzen Abend lang um dich haben..."
„Zweimal", warf Nina ein. „Ich muß doch die Songs lernen."
„Auch das noch! Also, zwei Abende pro Woche. Und das ist ja noch nicht alles: Die Arbeit im Krankenhaus hat dich schon in diesen paar Tagen verändert - das sehe sogar ich! Du bist auf Ideen gekommen, die Kalle ganz und gar nicht in den Kram passen. Wie vorhin im Eiscafé... Logisch, daß er dahinter auch Andreas’ Einfluß vermutet."
„Möglich."
„Magst du ihn, den Andy?" fragte Melanie.
Ninas Antwort war kaum hörbar. „Ja", flüsterte sie.
„Dann wüßte ich, was ich an deiner Stelle täte."
„Ich werde es mir durch den Kopf gehen lassen", sagte Nina.
„Und nicht nur durch den Kopf", lachte Melanie.
„Woran du gleich wieder denkst!" Nina ließ sich von Mels Lachen anstecken.
Melanie tat ganz unschuldig. „Ans Herz dachte ich, woran sonst?"
„Das weißt du genau. Also, Mel, ich halte dich auf dem Laufenden. Und danke - es war gut, daß ich dich anrufen konnte."
„Mach’s gut. Bis dann!"
Als Nina den Hörer auflegte, klingelte das Telefon sofort. Sie hielt die Muschel wieder ans Ohr. „Ja?"
Sie hörte ein umständliches Räuspern. „Ich bin’s - Kalle."
Nina schwieg.
„Baby, ich war vorhin wohl ein bißchen stürmisch. Sorry, ich habe einfach nicht gecheckt, was mit dir war." Er klang gequält, als müßte er sich die Worte regelrecht abzwingen. Naja, zumindest hatte er so etwas wie eine Entschuldigung fertiggekriegt.
„Okay", sagte sie nur.
„Ich hol dich morgen früh wieder ab", sagte er.
„Gut."
„Also, bis dann." Das Gespräch war beendet.
Bei den Klängen der abendlichen Rock Ballads aus dem Radio lag Nina noch lange wach und dachte hin und her. Endlich schlief sie ein, aber sie träumte wirr in dieser Nacht. Als sie aufwachte, hatte sie eine vage Erinnerung daran, daß Andreas und Kalle in ihrem Traum aufeinander losgegangen waren.
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